Allgemein
geknikkt
als hätte er es geahnt: vorgestern abend ist ein von mir immer heiß empfangener archetypischer brief von meinem antagonistischen bruder johannes b. bei mir gelandet: zwei mit einer schön regelmäßigen winzigen schrift eng beschriebene rückseiten mit mir völlig unverständlichen juristischen verklausulierungen – da lacht mein herz und ich fühle mich analog verbunden. immer steckt eine bedeutungsschwangere postkarte mit im klassischen a6 briefumschlag. das sahnehäubchen war dieses mal die briefmarke mit einem spruch des legendären sepp herberger: „DAS RUNDE MUSS INS ECKIGE“
gestern morgen bin ich auf meiner fahrt zum baumkreuz von der kreuzgasse schräg links abgebogen, knapp vorbei an einem dort geparkten sprinter. als ich dann am abend auf der rückfahrt in der gleichen konstellation rechts in die kreuzgasse eingebogen und mir sicher war, daß das auch dieses mal knapp gelingen würde, hat es plötzlich gescheppert und ich habe dem sprinter den rückspiegel abgefetzt und den kotflügel zerschrammt, ohne vorne viel zu bemerken.
am omnibus waren nur ein paar schrammen, aber der rückspiegel hatte eine scheibe der mittleren tür eingedrückt. die lag wie durch ein wunder unbeschädigt im OMNIBUS.
rundherum war kein mensch zu sehen und ich habe erst mal (vergeblich) die telefonnummer angerufen, die auf dem sprinter stand und mich dann auf die suche nach dem fahrer begeben und (vergeblich) an zwei haustüren geklingelt. als ich zurückkam, war der fahrer schon da und sagte, er müsse die polizei verständigen, da das ein firmenwagen sei. während der nervtötenden warterei hat es sehr geholfen, daß ich drei kinder dabei hatte, die oben vergnügt die fahrt genossen haben.
ich hatte das meiner neuen freundin lina versprochen, der enkelin meines alten freundes bernd – ihr bruder & ein junge, mit dem sich jannik angefreundet hatte, sind am ende auch mitgefahren. die mutter von lina ist mit dem auto voraus- und der vater des jungen mit dem auto hinterhergefahren. er war zeuge des geschehens. als wir nicht auf dem hof ankamen, ist die mutter von lina zusammen mit einer sympathischen jungen frau, die auf dem hof ein „ökologisches jahr“ macht und von den kindern sehr geliebt wird, mit dem fahrrad zu uns gekommen.
das war meine band! die kinder haben das als aufregendes abenteuer erlebt und ausgelassen gespielt. ich habe die beiden frauen besser kennengelernt und jannik hat überraschend seine gesellenprüfung bestanden, weil er zusammen mit dem vater des jungen tatsächlich die scheibe wieder in die tür eingebaut hat – was ich für unmöglich hielt.
so konnte ich die langatmigen prozeduren mit der polizei relativ gelassen überstehen und bis in die nacht hinein die beweismittel für die unfallmeldung an brigitte weiterleiten, die solche botschaften übrigens mit liebenswerter & mitfühlender gelassenheit aufnimmt und sofort bereit ist, alles weitere zu erledigen.
dann fand ich eine email von johannes, mit der er mir dieses foto „für meine flamingo-sammlung“ schickte:
alma mater ???
ist lateinisch und bedeutet „nährende mutter“. die uni erfurt – immerhin eine der ältesten deutschlands – empfand ich als gruselige mutter mit zuviel plastischer chirugie & glucksenden sternchen in ihrer rede. hinter gittern.
in diesen tempeln der „kulturwissenschaften“ sind die studentinnen in der überzahl – vier zu eins! so viele enkelinnen strömten am OMNIBUS vorbei und gönnten ihm nicht mal einen blick – sie konnten unsere signale nicht empfangen. die meisten waren studentinnen der erziehungswissenschaften. sowas hab ich noch nie erlebt.
zwei männliche afghanische studenten haben sich enthusiastisch für unsere arbeit interessiert und sage & schreibe drei jungs haben mich zögernd angesprochen – mit sowas wie „plebiszitäre elemente“ im sinn. am ende haben sich alle für das gespräch bedankt und mir ihre telefonnummer gegeben. spät am abend hat enoch vor dem OMNIBUS mit ein paar jungs gesprochen, die immerhin so mutig waren, ans fenster zu klopfen, und hat auch noch eine unterschrift & eine telefonnummer reingeholt – vier unterschriften & vier telefonnummern = erfolgskwote hundert prozent männlich.
wohlgemerkt: wir standen wie auf einem präsentierteller und so viele junge menschen wie sonst nie strömten völlig ungerührt um uns herum.
bei diesem namen für eine bestenfalls altväterliche institution dreht sich mir der magen um und ich fahre weitaus lieber über die dörfer.
damit genug für heute …
merle & ihr cello
jetzt ist auch merle weg – ich hab sie vom baumkreuz aus mit michael’s auto nach eschwege zum bahnhof gebracht. sie hatte sich zum schluß bei einer reparatur noch als ungemein geschickt erwiesen – umso mehr fehlt sie mir jetzt …
dream girls – im kwadrat
offensichtlich sind diese beiden die besten altenpflegerinnen der welt – ich könnte ins schwärmen geraten …
cellistinnen fühlen sich vom OMNIBUS magisch angezogen – so war es auch mit merle, die ich auf dem geburtstag der gls bank getroffen habe – sie hat sich spontan & sofort ein außerplanmäßiges praktikum organisiert für eine woche. sie hat mich angerufen und gefragt, ob sie ihr cello mitbringen dürfe, denn sie müsse üben für einen auftritt mit einem cello trio, am ersten tag nach ihrer heimreise. ich war ganz begeistert – ein cello hat mich im ersten corona winter gerettet. jetzt schläft das cello mit dem kopf zum gang hin in andrea’s bett.
merle ist am letzten samstag vor enoch im geruhsamen ifta zu uns gestoßen und wir haben zu viert ein sehr entspanntes & anregendes wochenende verbracht einschließlich krämer brücken fest und ausführlichem stadtrundgang in erfurt. alma war nach einer woche perfekt assimiliert und hat ganz nebenbei & selbstverständlich angefangen, merle für den OMNIBUS auszubilden – sie ist sehr aufmerksam und spürt von selbst, was zu tun ist oder fragt freiwillig nach aufgaben. gleich am ersten abend habe ich ihre geistesgegenwart bewundert.
als enoch uns verlassen hat, waren wir eine ultimative all star band und voll im einklang. opi da lang hatte gute laune und konnte sich voll auf seine arbeit konzentrieren, während sie sich fröhlich zwitschernd geschichten aus ihren leben erzählten – zwischen diesen beiden 17-jährigen fühle ich mich allen herausforderungen des alltags gewaxen.
jedenfalls bin ich voll begeistert und weiß noch nicht, wie ich sie entbehren können soll, denn übermorgen sind sie beide weg – alma haben wir heute mit dem OMNIBUS in hünfeld zum bahnhof gebracht.
danke für alles & kommt bald wieder !!!
enoch was here …
am samstag nachmittag ist enoch aus berlin nach ifta gekommen, wo wir auf dem hof von frank burkhardt ein sehr erholsames wochenende verbracht haben. ganz winzig ganz hinten links:
seit er in berlin seine erste anstellung hat, sehen wir uns selten, aber oho – wir füttern uns mit wahrnehmungen, die wir jeweils allein nicht erfahren können. in fleisch & blut. für mich ist das jedes mal erkwikkend. er hat sich extra urlaub genommen und ist für drei nächte geblieben – der reinste fluxus.
am sonntag hat er uns an seine ehemalige uni gelotst, an der er ein deutliches kielwasser hinterlassen hat. er ist in unserer jeweiligen band & im OMNIBUS sofort zuhause und hat unseren besuch perfekt organisiert. dank ihm bin ich hier auch mal bei der arbeit zu sehen, denn er schenkt mir seine daten.
um zwei uhr morgens ruft mein bett nach mir – obwohl es noch viel zu erzählen gäbe über diesen tempel der „wissenschaft“ …
umleitung
seit witten fühle ich mich wie auf einer umleitung oder auf einer fahrenden baustelle. ich bin voll damit beschäftigt, mich zu sinnkronisieren und die ruhe zu bewahren. so entstehen hier riesige lükken – auch weil ich lieber an bildern arbeite, die wortlos sprechen und vielleicht mal hier landen.
kirchenbetrieb
in mühlhausen (von 1975 bis 1991 „thomas-müntzer-stadt“!!!) gibt es mindestens fünf uralte kirchen, von denen nur noch in der „divi blasii kirche“, hinter der wir standen, religiöse liturgien zelebriert werden.
in dieser kirche war der junge johann sebastian bach organist. nach seinen spezifikationen wurde später eine neue orgel gebaut. auch sein begabtester sohn hat dort die orgel gespielt – ich habe gehört, er sei irgendwann mit eine zigeunerbande durchgebrannt …
alle anderen kirchen sind profanisiert und dienen der gemeinde auf freilassende weise als denkanstöße:
die größte, „st. marien“ ist thomas-müntzer-gedenkstätte, eine beherbergt das bauernkriegs-museum, eine ist die stadtbibliothek usw.
die erste wurde bereits am ende des 19. jahrhunderts verweltlicht. sie waren bestimmt einmal der ganze stolz der freien reichsstadt mühlhausen, als es noch keine adressen gab und keine nachnamen und vor allem keine nennenswerten maschinen & infrastrukturen & kommunikationsmittel, die die ganze energie gefressen haben. die zeit floß noch frei wie das leben mit der sonne & den jahreszeiten. und der kaiser war weit weg.
in den siebziger jahren war das „hotel stadt mühlhausen“ gewiß auch mal der ganze stolz der „thomas-müntzer-stadt“ als inbegriff von „modernität“ – ähnlich wie der „palast der republik“ in berlin.
nach der sogenannten wiedervereinigung wurde das sofort abgerissen und durch einen rücksichtslos auftrumpfenden neubau der sparkasse ersetzt:
ich war auf der jungfernfahrt des OMNIBUS im herbst 2000 zum ersten mal in mühlhausen und habe den platz nicht wiedererkannt – er war riesig & kahl zu tode restauriert.
früher bog eine straßenbahn schräg zwischen die beiden fachwerkhäuser auf der rechten seite ab und überall standen alte bäume – zum beispiel da, wo der OMNIBUS stand, eine große trauerweide.
heutzutage sind die sparkassen die schlimmsten schmarotzer der städte – genauso schlimm wie vor 500 jahren die einzig wahre religion der römischen amtskirche – und entweihen mit ihren häßlichen prunkbauten jede gemeinde.
jetzt trete ich lieber mal voll auf die bremse und befleißige mich in epistemologischer askese.
(mühlhausen läßt mich einfach nicht los)
zurück in die zukunft
seit mühlhausen wandere ich in der zeit von thomas müntzer und den bauernkriegen herum – 500 jahre nach hinten versetzt – und entdecke viele parallelen.
der adel & die pfaffen haben in unersättlicher gier die bauern entrechtet, das land gestohlen, die allmenden aufgelöst und die zeit quantifiziert.
thomas müntzer hat die sozialen mißstände radikal & leidenschaftlich angeprangert und bis zuletzt auch gegenüber den herrschenden auf der dunklen seite der macht kein blatt vor den mund genommen. heute wissen wir nicht mal, wie er ausgesehen hat, denn es gibt kein zeitgenössisches portrait von ihm. das hat die machthaber der ddr, die ihn als den prototypen des sozialen revolutionärs geehrt haben, nicht davon abgehalten, sein imaginäres konterfei auf geldscheinen & briefmarken abzudrucken.
ironischerweise ist die kirche mit dem höchsten kirchturm thüringens, st. marien, heute ein museum, das seinem andenken gewidmet ist. das ist übrigens die kirche, in der er in der sich dramatisch zuspitzenden endphase seines kurzen lebens gepredigt hat. ich stelle mir seine predigten wie naturgewalten vor – voll des heiligen geistes.
zwei jahre vor seiner bestialischen ermordung hat er ottilie von gersen, eine aus einem zisterzienserkloster entsprungene junge novizin geheiratet und mit ihr einen sohn gehabt – der legende nach soll sie die „regenbogenfahne“ der bauern genäht haben.
bis zu seinem letzten atemzug hat er seine peiniger angefleht, ihr überleben zu ermöglichen, denn sie war schwanger und völlig mittellos – ihr schicksal verliert sich im dunkeln.
also nix da mit meiner fantasie von „der bäuerin an seiner seite“ …
flamingo
hier bin ich nach einigen purzelbäumen zum wochenende gelandet – mit alma nelya, meiner 17-jährigen retterin – als danilo uns verlassen hat. sie hat sich ein außerplanmäßiges zweiwöchiges praktikum von ihrer schule erobert und war aus dem stand voll bei der sache. jetzt haben wir schon eine prallvolle woche miteinander verbracht und ich fühle mich total umsorgt von ihr – ihre gesellinnenprüfung hat sie mit bravour bestanden. wenn sie hier ist, läuft die arbeit wie am schnürchen, während wir uns einschwingen in ein dynamisches unisono. so schnell geht das selten.
ich wünsche mir natürlich, daß sie so bald wie möglich wieder kommt und möglichst lange bleibt